In Kurz
Agile Methoden versprechen viel: kürzere Durchlaufzeiten, höhere Produktivität, bessere Qualität, schnellere Reaktion auf Kundenbedürfnisse. Und tatsächlich zeigen zahlreiche Studien und Fallbeispiele, dass Agilität in der Praxis messbare Effekte erzielen kann – oft in Bereichen wie Time-to-Market, Fehlerreduktion oder Kosteneffizienz.
Doch ein Punkt wird in vielen Organisationen übersehen:
Ohne Baseline kann man die Wirkung agiler Arbeitsweisen nicht quantifizieren.
Und wer das versäumt, kann später nur noch vermuten, ob Agile wirklich etwas verbessert hat.
Der häufigste Fehler: Transformation starten, ohne den Ausgangspunkt zu erfassen
In der Praxis erleben viele Unternehmen denselben Verlauf:
- Ein Bereich führt agile Methoden ein.
- Teams arbeiten mit Sprints, Backlogs, Reviews und Retros.
- Einige Monate später fragt das Management:
„Und? Hat sich das gelohnt?“
Spätestens dann entsteht ein Problem:
Es existieren keine belastbaren Vergleichswerte aus der Zeit vor der Transformation.
Damit lässt sich nicht mehr sauber bestimmen:
- Wurden Cycle Times wirklich kürzer?
- Hat sich die Qualität verbessert?
- Ist die Produktivität gestiegen?
- Haben wir messbar schneller Wert geliefert?
Beobachtungen wie „es fühlt sich besser an“ oder „wir sind flexibler“ sind subjektiv – und helfen nicht, wenn es darum geht, Budget, Strategie oder Organisationsdesign zu rechtfertigen.
Warum die Baseline so wichtig ist
Eine Baseline ist ein objektiver, quantitativer Ausgangszustand, bevor man etwas verändert.
Ohne sie lassen sich Effekte nur schätzen – und das öffnet Tür und Tor für Fehleinschätzungen:
- Teams überschätzen positive Effekte („Confirmation Bias“).
- Veränderungen in Technik oder Personal werden fälschlich „Agile“ zugeschrieben.
- Verbesserungen bleiben unsichtbar, weil sie nicht belegt werden können.
- Skeptiker argumentieren: „Agile bringt nichts“ – und man kann es nicht widerlegen.
Mit einer Baseline dagegen kannst du klar zeigen:
Was hat sich wie stark geändert – und warum.
Und dann passiert es oft: Rollen werden infrage gestellt
Fehlt die Baseline, fehlt der Beweis der Wirkung.
Und wenn der Nutzen nicht sichtbar gemacht werden kann, entsteht eine gefährliche Dynamik:
Die Rollen, deren Kosten sichtbar sind, geraten unter Beschuss.
Ganz vorne: Scrum Master.
- Ihr Beitrag ist wertschöpfend – aber schwer greifbar.
- Viele Teams müssen sich den Scrum Master sowieso mit einem oder zwei weiteren Teams teilen. Ganz darauf zu verzichten ist nur einen kleinen Schritt weiter.
- Ihre Wirkung liegt in Team-Performance, Flow, Qualität, Konfliktlösung, Lernkultur. All das ist ohne Daten schwer quantifizierbar.
Wenn keine Baseline existiert, erscheint der Scrum Master schnell als „Kostenstelle ohne Output“ – weil seine Wirkung nicht messbar sichtbar wird, sein Gehalt aber sehr wohl.
Gleichzeitig bleiben andere Rollen weitgehend außen vor
Insbesondere Product Owner – oft ehemalige Führungskräfte oder Fachverantwortliche – werden deutlich seltener infrage gestellt.
Warum?
- Ihre Rolle ist nahe an der Linie und wird als „Business-relevant“ akzeptiert.
- Chapter Leads (die jeweils nur für einen Teil der Mitglieder eines Teams „zuständig“ sind“) und Scrum Master (die für zwei, drei Teams arbeiten) sind deutlich weniger in den Teams präsent.
Das führt zu einer paradoxen Situation:
Diejenige Rolle, die Teams befähigt, effizient zu arbeiten, wird am stärksten hinterfragt – genau dann, wenn es keine Messgrundlage gibt.
Was in der Baseline gemessen werden sollte
Letzten Endes geht es darum, dass die Organisation durch agiles Arbeiten besser dasteht als ohne. Dies sollte sich insbesondere auch in den finanziellen KPIs widerspiegeln. In einem unserer Projekte ging es konkret darum, Marktanteile positiv zu beeinflussen oder die Time To Market für Neuprodukte zu reduzieren. Das fand ich super konkret und gut messbar.
Kennzahlen hängen jedoch vom Produkt und der Organisation ab. Typische weitere Metriken sind:
- Lead Time / Cycle Time (Lieferzeit / Durchlaufzeit)
- Durchsatz (z. B. Features pro Monat)
- Qualität (z. B. Fehler pro Release)
- Lieferzuverlässigkeit (% committed vs. delivered)
- Kosten (z. B. Aufwände, FTE-Verbrauch)
- Kundennutzen (NPS, CSAT)
Eine Baseline sollte drei bis sechs Monate umfassen, damit die Werte robust und vergleichbar sind.
Agile Wirkung messen – aber mit System
Wer den Effekt von Agilität wirklich kennen und belegen will, sollte:
- Vorher messen (Baseline).
- Nachher messen (gleiche KPIs).
- Veränderung quantifizieren.
- Ursachenanalyse durchführen (z. B. Before/After, Kontrollteam, Difference-in-Differences).
- Wert monetarisieren (z. B. frühzeitigere Releases → schnellerer Umsatz).
Damit entsteht ein belastbarer Wirknachweis.
Fazit: Wer Wirkung sehen will, muss Wirkung messen
Agile Arbeitsweisen können echten Nutzen bringen. Doch ohne Baseline lässt sich dieser Nutzen kaum objektiv belegen.
Wer jedoch früh misst, kann klar zeigen, welchen Wert Agile geschaffen hat – und schafft Transparenz, Glaubwürdigkeit und bessere Entscheidungen.